Bernhard Peter
Wie Grippe-Medikamente wirken:
Der Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir in Aktion

Oseltamivir ist als oral verfügbarer Neuraminidase-Hemmer ein Medikament gegen Virusgrippe. Der Wirkstoff verhindert das Ablösen neu produzierter Viren von der ehemaligen Wirtszelle durch Blockade des Schlüsselenzyms Neuraminidase.

Oseltamivir ist wirksam gegen Influenza A und Influenza B. Es wird zur Behandlung zweimal täglich zu 75 mg über 5 Tage eingenommen. Die Behandlung von Influenza sollte so früh wie möglich begonnen werden, je früher, desto besser. Dann kann die Substanz die mittlere Erkrankungsdauer bei Erwachsenen und Kindern im Schnitt um einen Tag verkürzen und die Zahl der Komplikationen der Infektion in den Atemwegen deutlich reduzieren (um 68% bei Gesunden, um 34% bei Risikogruppen). Bei Senioren kann Oseltamivir 53 aller Lungenentzündungen verhindern und 68% aller Todesfälle durch Influenza. Wenn das Medikament 36-48 Stunden nach dem ersten Auftreten von Symptomen eingenommen wird, kann die Erkrankungsdauer um 2 Tage gesenkt werden, bei einer Einnahme innerhalb der ersten 12 Stunden kann die Erkrankungsdauer sogar um 4 Tage gesenkt werden.

Oseltamivir kann auch zur Vorbeugung eingesetzt werden, dabei kann Oseltamivir die Zahl der klinischen Grippe-Erkrankungen bei Kontaktpersonen um 92% (!) senken. Die Dosierung zur Vorbeugung beträgt 1x tgl. 75 mg über einen Zeitraum von mindestens 7 Tagen. Die Einnahme sollte so früh wie möglich nach einem Kontakt mit einem Infizierten begonnen werden, am besten innerhalb von 2 Tagen. Während einer Grippe-Epidemie in der Bevölkerung kann Oseltamivir die Erkrankung in 75% der Fälle verhindern. Während eines lokalen Influenza-Ausbruchs kann Oseltamivir für maximal 6 Wochen vorbeugend eingenommen werden. Der Wirkstoff ist gut verträglich, als häufigste Nebenwirkungen werden gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Bauchschmerzen und Erbrechen genannt. Wichtig: Oseltamivir ist insbesondere bei älteren Patienten und Risikogruppen kein Ersatz für die Grippeschutzimpfung, die nach wie vor die Vorbeugung Nr. 1 ist. Auch H5N1-Viren sowie rekombinante Nachbauten der H1N1-Viren von 1918 sind empfindlich gegen Oseltamivir. Resistenzen durch Mutationen sind möglich und wurden schon beobachtet.

Oseltamivir (GS4104) ist eigentlich ein Prodrug. In der Leber wird es durch hepatische Esterasen gespalten und in Oseltamivircarboxylat (GS4071) umgewandelt, welches den aktiven Metaboliten darstellt (Bioverfügbarkeit 75-80%). Dieses wird vom Körper nicht weiter verstoffwechselt, sondern als solches über die Niere ausgeschieden. Dabei war die Not der Anfang einer großen Erfindung: Das zuerst hergestellte GS4071 erwies sich bei oraler Gabe als nicht hinreichend bioverfügbar, und erzwang die Veresterung zum lipophileren GS4104.

Interessant ist die Tatsache, daß Oseltamivir aus einem Naturprodukt als Ausgangsstoff synthetisiert wird. Die chemische Formel zeigt drei verschiedene Stereozentren. Asymmetrische Synthese ist aufwendig, Trennungen sind teuer und produzieren viel Abfall – viel einfacher war es für die Hersteller, ein Naturprodukt zu finden, das die besagten Stereoelemente schon mitbringt. Die Wahl fiel erst auf die Chinasäure, später dann auf die Shikimisäure, einen wichtigen Inhaltsstoff von Sternanis, Illicium verum. Die als Lieferant des in der chinesischen Küche beliebten Gewürzes bekannte Pflanze leistet dabei die Arbeit der asymmetrischen Synthese, in 11 weiteren Syntheseschritten machen die Chemiker aus der Shikimisäure Oseltamivir.

Wie der Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir wirkt, zeigen im Detail folgende Abbildungen:

Abb.: Struktur eines Monomers der Neuraminidase. Das Enzym ist hier nur in seiner Sekundärstruktur dargestellt, als Kugel-Stab-Modell die Zuckerreste. In sphärischer Darstellung im Zentrum befindet sich das Molekül Oseltamivir, ein Hemmstoff des Enzyms. Oseltamivir ahmt den natürlichen Liganden des aktiven Zentrums nach und blockiert das Enzym. Eine wesentliche Konformationsänderung findet dabei nicht statt. Man beachte, daß sich die Neuraminidase auf der Oberfläche der Influenza-Viren in Tetrameren zusammenfindet. PDB-ID: 2QWK.

Abb.: Struktur eines Monomers der Neuraminidase. Das Enzym ist hier nur in seiner Sekundärstruktur dargestellt, als sphärische Modelle in grau und violett die Zuckerreste. In himmelblauer sphärischer Darstellung im Zentrum befindet sich das Molekül Oseltamivir. PDB-ID: 2QWK.

Abb.: Struktur eines Monomers der Neuraminidase. Das Enzym ist hier in seiner vollständigen Raumstruktur in Orange dargestellt, die Zuckerreste in weiß/rot. Links: Im Zentrum befindet sich die Tasche des aktiven Zentrums, bereit zur Aufnahme von Sialinsäure oder des Arzneistoffes Oseltamivir. Rechts: In himmelblauer Darstellung im Zentrum hat das Molekül Oseltamivir das aktive Zentrum blockiert. PDB-ID: 2QWK.

Grundlage für die vier Abbildungen: Research Collaboratory for Structural Bioinformatics Protein Data Bank http://www.rcsb.org/pdb, PDB-ID: 2QWK Varghese, J. N., Smith, P. W., Sollis, S. L., Blick, T. J., Sahasrabudhe, A., McKimm-Breschkin, J. L., Colman, P.M.: THE X-RAY STRUCTURE OF A COMPLEX OF 5-N-ACETYL-5-AMINO-3-(1-ETHYLPROPOXY)-1-CYCLOHEXENE-1-CARBOXYLIC ACID (GS4071) AND WILDTYPE TERN N9 INFLUENZA VIRUS NEURAMINIDASE, Originalbeitrag: Varghese, J. N., Smith, P. W., Sollis, S. L., Blick, T. J., Sahasrabudhe, A., McKimm-Breschkin, J. L., Colman, P. M. Drug design against a shifting target: a structural basis for resistance to inhibitors in a variant of influenza virus neuraminidase. Structure v6 S.735-746, 1998

Das Enzym der Freiheit: Neuraminidase - Der natürliche Ligand der Neuraminidase: Sialinsäure - Der Mechanismus der Vermehrung - Grippe-Medikamente - Neuraminidase-Hemmer - Der Neuraminidase-Hemmer Peramivir in Aktion - Der Neuraminidase-Hemmer Zanamivir in Aktion - Literatur, Quellen und Links

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