Bernhard Peter
Das Kosh-Prinzip in der Architektur

Synonyme: Kosh, Kosch, Qosh, Kasch, Kash, Qash.

Was ist das Kosh-Prinzip?
Das Kosh-Prinzip bedeutet, daß einander gegenüberliegende Gebäude bezüglich ihrer Fassadenelemente aufeinander ausgerichtet sind. Die Hauptachse ist eine gemeinsame, die Iwane, Durchgänge, Fenster, Ecktürme etc. liegen einander gegenüber. Wie Bild und Spiegelbild stehen sich zwei Medresen oder Moscheen gegenüber und ergänzen sich zu einem harmonischen Bild und bilden zwischen sich einen im Stadtbild besonders hervorgehobenen Platz. Das Wort ist abgeleitet von persisch „Qash“ – „gegenüber“.

Was bewirkt das Kosh-Prinzip?
Vordergründig mag das Kosh-Prinzip als eine städtebauliche Spielerei erscheinen, als Lust an der Symmetrie. Doch es ist mehr. Es spannt einen umbauten Raum auf, der sich über den dazwischen liegenden Platz erstreckt. Es baut ein Spannungsfeld auf, das von Fassade zu Fassade spannt und den Raum dazwischen spürbar aus der ungeordneten Zufälligkeit einer orientalischen Altstadt quasi herausschneidet und aus der Alltäglichkeit des Geschehens ringum herausreißt und mit einer besonderen Hervorhebung ausstattet. Architektur ist in diesen Ensembles nicht nur der Bau als Positiv-Element, sondern auch der Raum dazwischen als Negativ-Element. Die geschlossen wirkenden Baukörper der Medresen haben ihre Entsprechung im leeren Raum dazwischen, wie Systole und Diastole, wie Einatmen und Ausatmen ergänzen sich positiver und negativer Baukörper zu einem Rhythmus der Stadtplanung, der sich rechts und links in den Höfen fortsetzt. Schlüsselstellen sind die Iwane und Portalnischen, denn sie gehören zu beiden Elementen: Sie sind Eingang in die positiven Elemente und zugleich Ausgang aus den negativen Elementen, sie sind konkave Elemente des positiven Körpers und konvexe Elemente der Negativ-Form dazwischen. Wie zwei einander gegenüber aufgehaltene Hände schützen sie den Raum dazwischen, grenzen ab und regeln den Übertritt zwischen den einzelnen Raumkompartimenten, verbinden die gebauten Rhythmen, und zwar nicht abrupt, sondern stufenförmig.

Beispiel 1: Der Registan in Samarqand
Hier ist das Kosh-Prinzip perfekt: Die Fassade der jüngeren Medrese ist quasi eine Kopie der älteren gegenüber und greift die Proportionen auf. Der aufgespannte Raum ist fast vollkommen symmetrisch, der Platz eine städtebauliche Ruhezone, beide Iwane haben die gleiche Höhe und bilden ein vollkommenes Gegenüber. Beide Bauwerke stehen auf einer kaum wahrnehmbar erhöhten Plattform rechts und links des Platzes, Eingänge etc. liegen auf der selben Ebene. Noch vollkommener wird die Anordnung durch die Entsprechung der jeweils vier Minarette beider Medresen, die über dem Ganzen einen Rhythmus aus vier quaderförmigen Räumen aufspannen und die Ambiguität zwischen innerem und äußerem Raum noch unterstreichen.

Beispiel 2: Das Poi-i-Kalan-Ensemble in Bukhara
Hier ist das Kosh-Prinzip ebenfalls gegeben, aber suboptimal gelöst. Die Funktion beider gegenüber in Achse liegenden Gebäude ist nicht die gleiche, das eine ist eine Moschee, das andere eine Medrese. Die Höhenentsprechung ist nicht gegeben, die ältere Kalan-Moschee besitzt eine niedrigere Fassade und einen niedrigeren Iwan. Dafür hat sie die breitere Fassade. Die Medrese gewinnt zusätzliches städtebauliches Gewicht durch die beiden Kuppeln auf Tambour rechts und links des Eingangs-Iwans der Haupfassade. Ein Gegengewicht auf der anderen Seite ist der asymmetrisch stehende wuchtige Turmbau des älteren Kalan-Minaretts. Die Plattformen, auf denen die Gebäude stehen, befinden sich außerdem nicht auf der selben Höhe, der Platz ist asymmetrisch gestuft. Insgesamt ist das ein Kosh-Prinzip, das durch die Fluchtung der Achsen entsteht, aber im Detail eher dynamisch als symmetrisch interpretiert wurde.

Beispiel 3: Das Ensemble in Khiva
Hier ist das Kosh-Prinzip wiederum sehr symmetrisch realisiert. Die Abbildung zeigt den Blick nach Süden, links die Allah Quli Khan Medrese, rechts die Qutlugh Murad Inak Medrese, beide mit ihren Eingangs-Iwanen aufeinander bezogen. Beides sind Medresen, beide stammen aus dem frühen 19. Jahrhundert. Beide stehen auf erhöhten Plattformen. Beide Pishtaqs und Iwane entsprechen sich vollkommen in der Höhe und Proportionen. Zwischen beiden Medresen verläuft eine vertieft gelegene Straße in Nord-Süd-Richtung, mit gleichem Abstand zu beiden Medresen. Die Symmetrie ist wieder perfekt.

Beispiel 4: Die Kosh-Medrese in Bukhara
Hier ist das Kosh-Prinzip äußerst symmetrisch realisiert. Die Abbildung zeigt den Grundriß der Schlüsselzone. Beide Bauwerke scheinen von der Straßenansicht her wie aus einem Guß, obwohl ihre wirkliche Ausrichtung um ca. 12 Grad voneinander abweicht. Aber um perfekte Harmonie zu erreichen, verdreht man schon mal die Fassade gegenüber dem Hof. Interessanterweise ist aber gerade diese östliche Medrese mit abweichender Fassadenlinie die ältere, diejenige, welche zuerst stand und sich dem Nord-Süd-Straßenverlauf anpaßte, ehe 23 Jahre später die Medrese Abdullah Khan im Westen errichtet wurde. Immerhin wurden beide Medresen vom selben Herrscher erbaut, eine für seine Mutter und eine für sich. Die beiden Turmpaare, die zweimal drei Loggienpaare, die beiden Pishtaqs und das Iwan-Paar der Haupteingänge entsprechen einander in spiegelbildlicher Harmonie.

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© Copyright Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2006
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