Bernhard Peter
Typisch japanische Dinge (42): Origami


Eigentlich ist es müßig, im Rahmen der typisch japanischen Dinge ein Kapitel über Origami zu schreiben, denn das ist so typisch japanisch, daß es schon zum Stereotyp geworden ist. Selbst wer sonst nichts über die japanische Kultur weiß, kennt schon seit Kindertagen Origami. Vielleicht wurde die Papierfaltkunst deswegen so zum Abbild wie Sinnbild der japanischen Kultur, weil es viele Dinge in sich vereint, die typisch japanisch sind: Minimalismus, Abstrahierung, Design, Perfektion, Materialbewußtsein, Vergänglichkeit, Ästhetik, Symbolik und Sinngehalt.

Zur Wortbedeutung: "oru" ist der Wortstamm für die hier relevante Bedeutung "biegen, knicken, falten". Daneben kann "oru" aber noch vieles anderes bedeuten: brechen, abbrechen, beenden, unterbrechen. Die Höflichkeitsform wäre "orimasu" im Präsens und "orimashita" in der Vergangenheit. "Kami" bedeutet "Papier" und wird im Kontext zu "gami". Dieses Kami klingt zwar vordergründig wie Kami = Gott, Geist, wird aber mit einem anderen Kanji geschrieben und hat nichts mit dem anderen zu tun. Und es gibt sogar noch ein drittes Kanji, das wie "kami" gesprochen wird, das bedeutet jedoch "oben" und hat auch nichts mit den für das Wort "Origami" verwendeten Kanji zu tun. Das Gleiche gilt für "Kami" mit der Bedeutung "Haar" und dem vierten Kanji dieser Aussprache.

Das Prinzip des Origami besteht darin, aus einem meist quadratischen, aber auch rechteckigen oder sogar achteckigen Blatt Papier möglichst ausschließlich durch Faltungen Gegenstände, Tiere, Blüten, Pflanzen, Schachteln oder abstrakte Dekorationen zu erzeugen und dabei ohne Schnitte auszukommen. Das Ergebnis muß so eindeutig identifizierbar wie möglich sein. Jegliche Bemalung oder weitere Dekoration ist ein No-go. Also: Man braucht nur Papier, idealerweise Washi, Phantasie und zehn Finger, sonst nichts. Alles, was Stift, Pinsel, Schere oder Klebstoff heißt, vernichtet den Charakter der Origami-Kunst. Durch Grundfaltungen wie Knick, Talfaltung, Bergfaltung, Gegenbruchfalte bzw. Rückwärtsfaltung nach außen oder nach innen, Quetschfaltung, Zickzackfaltung nach außen und nach innen, Versenken von Spitzen durch Invertieren etc. wird das Papier in Form gebracht, wobei der erste Schritt die Herstellung einer bestimmten Grundform (zusammengeschobenes Dreieck, zusammengeschobenes Quadrat, Vogelbasis, gestreckte Vogelbasis, achtzackiger Stern, T-Faltung etc.) ist, um die benötigte Anzahl an freien Spitzen zu erzeugen, und der zweite Schritt dann die Formgebung im Detail. Klassisches Origamipapier trägt nur auf einer Seite farbige Druckmotive; die Rückseite ist weiß. Standardgröße ist 15 x 15 cm, üblich sind auch noch 7,5 cm, 18 cm, 20 cm und 25 cm Seitenlänge.

Nach wie vor eine der traditionellsten, symbolträchtigsten, einfachsten und beliebtesten Formen ist der Kranich (Tsuru). Man findet ihn einzeln als kleine Aufmerksamkeit, als Beigabe zu Genesungswünschen etc. und zu Hunderten auf Fäden aufgereiht und zu Büscheln gebunden als Votivgabe in Tempeln und Schreinen, meist an den Ema-Gestellen aufgehängt. Der einzelne Faltkranich bzw. das Falten von Kranichen heißt Ori-tsuru. Demjenigen, der tausend Origami-Kraniche (Senbatsuru, sen = 1000, ba = Zählwort für Vögel, tsuru = Kranich, gesprochen "sembazuru") faltet, eigenhändig und innerhalb Jahresfrist, wird von den Göttern ein Wunsch erfüllt, so lautet eine alte japanische Legende. Eigentlich steht die Zahl Tausend nicht für die Anzahl an einzelnen Figuren, das sind einfach "viele", sondern für die tausend Jahre, die der Kranich leben soll. Der Kranich steht traditionell in Japan für ein langes Leben und ist so symbolisch einer der größten Hoffnungsträger im japanischen Alltag. Den wohl kleinsten Origami-Kranich der Welt faltete 1986 ein Künstler mit einer Nadel unter dem Mikroskop aus einem 1 x 1 mm großen Stück Papier. Andere Klassiker sind Frosch und Krabbe. Diese drei, seit über 1000 Jahren bekannt, werden als "die drei Origami" zusammengefaßt, symbolisch die wichtigsten und traditionellsten Figuren.

Schon in der Heian-Zeit entwickelte sich die Kunst des geschmackvollen Verpackens. Seit dem 14. Jh. entwickelte sich in der japanischen Kultur das Bedürfnis, bestimmte Dinge des Haushalts und des Alltags auf besondere Weise zu präsentieren. Das Verpacken von Geschenken war ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet (Origata - ori + kata, Art und Weise des Faltens). Die Grenze zwischen nützlicher Faltkunst und dekorativer Faltkunst verschob sich immer mehr zu letzterer hin. Bald gehörte Origami zur standardmäßigen Erziehung junger Damen. In der Muromachi-Zeit begann die Blütezeit des klassischen Origami, als 50 neue Faltmodelle erfunden wurden. Am Ende der Edo-Zeit gab es insgesamt etwa 70 bekannte Faltmodelle. Die erste unzweifelhafte schriftliche Erwähnung von Origami-Figuren stammt allerdings erst aus dem Jahr 1680, in einem Haiku-Gedicht von Ihara Saikaku. Es handelt sich dabei um das Modell von männlichem und weiblichem Schmetterling (Ocho mecho).1682 erwähnt Saikaku in seiner Erzählung " Koshoku Ichidai Otoko" ein Origami eines legendären chinesischen Vogels (Hiyoku-no-tori). Es entstanden in der Folgezeit drei maßgebliche Werke über Origami: 1797 das Senbatsuru-origata ("Falten der 1000 Kraniche") und das Chushingura-origata und 1850 das Kan-no-mado ("Fenster zur kalten Jahreszeit", Sinn: Beschäftigung an kalten Winterabenden). Während der Meiji-Zeit geriet vieles in Vergessenheit, und die Modelle verloren ihre symbolische Bedeutung, verkamen zu reinem Spielzeug. 1941 erschien das erste Origami-Handbuch der Neuzeit. Einen großen Aufschwung mit einer Vielzahl von Modellen nahm die Papierfaltkunst, als es mit dem Yoshizawa-Randlett-System seit 1954 ein vereinheitlichtes Notationssystem für Faltanleitungen gab, mit dem auch komplexe Modelle eine größere Verbreitung und Bekanntheit fanden. Akira Yoshizawa gilt daher mit Recht als Begründer der modernen Origami-Vielfalt. Andere Wegbereiter einer neuen Origami-Kultur waren Toshie Takahama, Isao Honda, Kosho und Mishio Uchiyama, Kunihiko Kasahara, Toyoaki Kawai und Yoshihide Momotani. Was zwischenzeitlich zum bloßen Spielzeug degradiert worden war, erreichte mit neuen Impulsen eine neue Blüte als künstlerisches Origami, bei dem Meisterwerke abstrakter Ästhetik aus minimalem Materialeinsatz entstehen. Sosaku-origami entstand, kreatives Origami.

Ebenso möglich ist die Kombination modular erstellter Einzelformen zu einem komplexen Ganzen (Tangrami), was insbesondere bei polygonalen Schachteln und Dekorationen als Prinzip zum Tragen kommt. Nicht der strengen Form des traditionellen Origami entspricht das Kirigami, welches Einschnitte zuläßt. Superkomplexes Origami ist eng mit dem Namen Satoshi Kamiya verbunden; seine Modelle haben locker 200-300 Faltschritte und wirken extrem realitätsnah. Eine relativ neue Spielart ist das Arbeiten mit leicht feuchtem Papier, um die Modelle lebensnaher in fließenderen Formen ausmodellieren zu können. Bekannte Künstler in diesem Bereich sind Akira Yoshizawa und Eric Joisel. Manche modernen Künstler verwenden heute mit Aluminium beschichtetes Papier, weil Faltungen insbesondere dickerer Papierschichten besser halten. James Minoru Sakoda ist z. B. bekannt dafür. Abstraktes Origami findet sich bei Jean-Claude Correia, Paul Jackson und Vincent Floderer. Repräsentatives Origami pflegen David Brill, Michael LaFosse, Joseph Wu und der bereits genannte Eric Joisel. Eine andere Variante ist das Fabrigami, das Techniken des Origami auf Stoff (fabric) überträgt.


einzelne Origami-Kraniche

 

Büschel aus Origami-Ketten mit unendlich vielen Tsuru (Kranichen) am Ema-Gestell des Kamigoryo-jinja, Kyoto

 

Büschel aus Origami-Ketten mit unendlich vielen Tsuru (Kranichen) am Ema-Gestell des Kamigoryo-jinja, Kyoto

Büschel aus Origami-Ketten mit unendlich vielen Tsuru (Kranichen) am Kibitsu-Schrein bei Okayama

 

Büschel aus Origami-Ketten mit unendlich vielen Tsuru (Kranichen) am Kibitsu-Schrein bei Okayama

Senbatsuru: 1000 Kraniche aus Origami, auf Schnüre aufgefädelt.

Senbatsuru: sen = 1000, ba = Zählwort für Vögel, tsuru = Kranich

jedes Büschel ist im Farbspiel unterschiedlich.


Literatur, Links und Quellen:
Nicholas Bornoff, Michael Freeman: Things Japanese - Everyday Objects of Exceptional Beauty and Significance, 143 S., Verlag Periplus, 2014, ISBN-10: 480531303X, ISBN-13: 978-4805313039, S. 130-131
Masters of Origami: Die Vielfalt der Faltkunst, Hatje Cantz Verlag, 1. Auflage 2005, ISBN-10: 3775716270, ISBN-13: 978-3775716277, bzw. Masters of Origami, the Art of Paperfolding, 160 S., Hangar 7, 2005, ISBN-10: 3775716289, ISBN-13: 978-3775716284
Dominique Buisson: Japanische Papierkunst - Masken, Laternen, Drachen, Puppen, Origami, 223 S., Editions Terrail, Paris 1996, ISBN-10: 2879390109, ISBN-13: 978-2879390109


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