Bernhard Peter
Typisch japanische Dinge (31): Jizo (Jizou Bosatsu)


         

Jizo - ein äußerst populärer Bodhisattva
An Jizo (Jizou) kommt man in Japan nicht vorbei: Seine Figuren sind ubiquitär. Vom hohen, künstlerisch gestalteten Denkmal an markanter Stelle bis zum bemoosten Umriß-Stein irgendwo am Wegrand, vom Einzelobjekt bis zu einer ganzen Gruppe, von der Figur im Freien bis zu eigenen Jizo-Hallen (Jizo-do) - die Verehrung des Jizo ist weit verbreitet, und seine Darstellungen überall zu entdecken.

Bei Jizo handelt es sich um einen Bodhisattva, also ein typisches Wesen des Mahayana-Buddhismus, das Erleuchtung und Buddhaschaft erlangt hat, aber sich in den Dienst der fühlenden Wesen stellt und seine eigene Tugendvollkommenheit zum Heil aller Lebewesen einsetzt. Im Sanskrit ist Jizo, der in keinem anderen buddhistischen Land außerhalb Japans eine derartige Popularität genießt, unter dem Namen Kshitigarbha bekannt. In China genießt er ebenfalls eine nennenswerte Verehrung, aber in Indien und in den Himalaya-Ländern ist der Kshitigarbha-Kult eher nebensächlich. Ähnlich populär wie Jizo ist in Japan nur Kannon (Sanskrit: Avalokiteshvara) von den anderen Bodhisattvas. Den Jizo-Kult gab es schon während der Nara-Zeit, und die ältesten erhaltenen Jizo-Statuen stammen aus der frühen Heian-Zeit. Im Laufe der Geschichte haben sich zudem unzählige Varianten entwickelt. Die hohe Verehrung, die ihm entgegengebracht wird, äußert sich auch in der Verwendung von Honorativ-Formen wie Jizo-san oder gar O-Jizo-sama.

Wenn wir ein "besseres" Exemplar haben, sehen wir einen aufrechten oder sitzenden hübschen jungen Mann in Mönchskleidung mit kahlrasiertem Kopf, was eine Ausnahme bei der Darstellung von Bodhisattvas ist. Er hält in der Rechten einen Pilgerstab mit mehreren Ringen hält und in der Linken eine Wunscherfüllungsperle. Der Pilgerstab (Shakujo, Shakujou, auch: Ushoujou, Sanskrit: Khakkhara) ist ein typisches Ausstattungsstück eines Henro (Pilger) und besteht im Original aus einem Holzstab, der am oberen Ende einen metallenen Beschlag trägt, der zwei Ringe nebeneinander besitzt, und in jeder Hälfte hängen wiederum typischerweise drei Ringe. Einerseits kann der Pilgerstab als Wanderstab benutzt werden, andererseits dient das durch die Ringe erzeugte Geräusch sowohl zum Verscheuchen von Getier als auch zum Ankündigen eines Almosenwunsches, wenn der Pilger sich bettelnd Häusern näherte. Die Wunscherfüllungsperle oder das Wunschjuwel (Nyoi no tama oder Houju, Sanskrit: Chintamani) ist ein Edelstein, der dem Besitzer das geben kann, was er sich in seinem tiefsten Herzen am meisten wünscht. In Kombination mit einem Buddha oder Bodhisattva ist dieser Wunsch natürlich der nach Erleuchtung, die durch die Wirkung des Dharma erlangt werden kann. Wie bei Kannon stellt sich auch bei Jizo die Frage nach dem Geschlecht: Kannon wurde in Indien, Tibet und Südostasien als männlich angesehen, in Japan aber entstanden weibliche Figuren. Bei Jizo ist es umgekehrt: In seiner Ursprungsheimat war er offensichtlich weiblich, wird in Japan aber überwiegend mit männlichen Zügen und Merkmalen dargestellt.


Jizo - Retter der Totenseelen und der Kinder
Die Aufgaben von Jizo sind vielgestaltig: Jizo ist zum einen derjenige, der in der Zeit zwischen dem Tod des historischen Buddha (Shaka Nyorai) und dem Auftreten des Maitreya (Miroku Butsu) die Seelen in der Unterwelt begleitet und vor der Hölle rettet, ihr Leiden verkürzt und sie von ihren Qualen erlöst. Jizo nimmt sich auch derjenigen an, die kein ordentliches Begräbnis erhalten haben und deshalb nicht ordnungsgemäß in der Unterwelt ankommen, also Totenseelen ohne Verwandtschaft; diese werden Muen botoke genannt, Buddhas ohne Bindung. Deswegen findet man seine Darstellung auch sehr häufig auf Friedhöfen. Interessant ist eine gewisse Doppelrolle des Jizo, weil einige Überlieferungen den Richter der Unterwelt, Enma, als eine Manifestation von Jizo ansehen. Damit vereint Jizo in sich sowohl die Strenge des Richters als auch die Milde der Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit und die Gnade.

In der Praxis sind die meisten Jizo-Statuen aber viel einfacher, denn Jizo kann auch als Kind dargestellt werden. Oder, besonders bei alten und verwitterten Jizo, ist es nur noch ein Stein mit ungefährem Kindesumriß. Denn zum anderen ist Jizo ein Beschützer und eine Schutzgottheit der Kinder. So wird er manchmal auch mit Kindern im Arm dargestellt, oder mit Kindern, die ihn umringen. Wenn beide Aspekte, Kind und Tod, zusammenkommen, wird aus Jizo der besondere Beschützer von ungeborenen Kindern, totgeborenen Kindern oder auch jung verstorbenen Kindern. Da diese Kinder noch gar keine Gelegenheit hatten, Schuld auf sich zu laden, können sie ja nicht in die Hölle kommen. Die Seelen dieser Kinder sind nicht in der Lage, den mythologischen Fluß Sanzu zu überqueren und irren in einer Art Zwischenwelt oder Niemandsland am Steinigen Flußufer (Sai-no-kawara) zwischen Diesseits und Jenseits umher und schichten Steine aufeinander, bis entweder keiner mehr um sie trauert oder aber Jizo sie findet und über den Fluß geleitet und ins Paradies bringt. Deshalb wird er auch Kosodate Jizo genannt, der die Kinder erhebende Jizo.

Früher kam es auch vor, daß unerwünschte Mädchen gleich nach der Geburt getötet wurden, wobei man diesen Säuglingsmord beschönigend "Zurückschicken" nannte. Die umgebrachten Säuglinge nannte man Mabiki-ko, Ausdünnungskinder. In neuerer Zeit hat Jizo eine besondere Bedeutung für abgetriebene Kinder erhalten, ein zeitweise nicht unerhebliches Problem wegen des lange bestehenden Verbots von hormonellen Kontrazeptiva (wurde erst Angst vor einer weiter abnehmenden Geburtenrate erst 1999 eingeführt!) und der Einfachheit legaler Abtreibung (ca. 500000 Abtreibungen laut UN-Angaben pro Jahr). Fehlgeburten, abgetriebene Föten und Totgeburten werden als "Wasserkinder" (Mizu-ko) bezeichnet, und Jizo steht ihnen besonders nahe.

Das auffälligste und typischste Merkmal von Jizo-Figuren ist das umgebundene rote oder auch weiße Lätzchen. Eltern verstorbener Kinder binden den Figuren das Lätzchen als persönlichen Gegenstand ihres Kindes um, in der Hoffnung, daß Jizo ihr Kind anhand der persönlichen Merkmale des Lätzchens findet und herausgreift zu seiner Rettung. Ebenso ist es Usus, den Figuren gehäkelte Mützchen überzuziehen, manchmal findet man auch beides, Mützchen und Lätzchen, oder sogar richtige Kinderkleidung und sogar Babyspielzeug. Das hat seine Wurzeln in einem früheren Brauch, daß einer Mutter eines Mabiki-ko gerade einmal 7 Tage Trauerzeit zugestanden wurde, danach mußte sie die persönlichen Sachen des Kindes zu Jizo bringen, damit das normale Leben, also die Feldarbeit weitergehen konnte. Die rote Farbe der Lätzchen dominiert, an zweiter Stelle steht weiß.

Diese Jizo-Figuren, Stellvertreter für die Kinder, stehen meistens in größeren Gruppen zusammen und bilden bestimmte Abschnitte auf Friedhöfen, die von den Angehörigen (Eltern) für die Gedenkrituale (Mizuko kiyou) genutzt werden. Hinter jedem einzelnen Kindesschicksal, das oft nicht von der Mutter selbst, sondern von der Familie entschieden wurde, steht unsägliches emotionales Leid der betroffenen Mutter, und diese Erinnerungsrituale helfen bei der emotionalen Verarbeitung und der Kompensation von Schuld. Die Mutter hat das Gefühl, ihrem Kind im Jenseits etwas geben zu können, und weil das emotional so wichtig ist, ist das auch heute noch geübte Praxis.

Natürlich haben diese Bräuche ihre Wurzeln im buddhistischen Mitgefühl und werden von dem Grundgefühl der Barmherzigkeit gegenüber allem Leben und der im Totengedenken vorhandenen Trauerkultur getragen. Aber es gibt auch weitergehende Bräuche, vom Verkauf von Jizo-Statuen bis hin zu makabren Hochzeitsritualen für verstorbene Kinder, was für die Tempel auch ein gut gehendes Geschäft ist. Es ist leicht, traumatisierten Eltern Rituale und Devotionalien zu verkaufen, mehr zum Wohle des Tempels als der Mutter.

Es muß aber nicht immer gleich ganz schlimm sein und sich um einen Todesfall handeln, wenn wir einen frisch ausgestatteten Jizo sehen - Jizo wird auch verehrt, wenn er offensichtlich ein Kind gerettet hat: Wenn ein Kind schwer erkrankt ist und Jizo heilt, ist das auch ein Dank an den Bodhisattva wert - der auf die gleiche Weise ausgeführt wird: Rotes Lätzchen, rotes Mützchen, Spielzeug - für den uneingeweihten Betrachter ununterscheidbar von den vorerwähnten tragischen Ursachen.

Der dritte Aspekt von Jizo ist der Schutz von Wegen und Reisenden. Damit gesellt sich Jizo Bosatsu zu den Doso-jin (Douso-jin, Gottheiten der Wege).


auf dem Weg zu sehenswerten Jizo-Statuen
Wer besonders schöne und alte Jizo-Statuen sehen möchte: Im Koryu-ji in Kyoto steht die älteste erhaltene Jizo-Statue überhaupt; sie stammt aus der frühen Heian-Zeit. Im Byodo-in in Uji steht ein hölzerner Jizo aus der späten Heian-Zeit. Im Tsurugaoka Hachimangu National Museum in Kamakura befindet sich eine Kamakura-zeitliche Jizo-Figur aus dem Tempel Jufuku-ji. Einen nackten Jizo aus der Kamakura-Zeit können wir dem Denko-ji in Nara sehen. Im Rokuharamitsu-ji in Kyoto gibt es einen Jizo aus dem 12. Jh., von Unkei hergestellt, der ursprünglich aus dem Jurin-in des Tempels Bodai-ji stammt und in der Hand das magische Juwel hält. Weiterhin gibt es im Rokuharamitsu-ji einen Jizo (Katsurakake Jizo) aus dem 11. Jh. mit einer Haarlocke, die daran erinnert, daß einst eine Frau ihr Haar als Opfer für die Heilung ihrer kranken Tochter anbot - erfolgreich. Der stehende Jizo Bosatsu (Ksitigarbha) mit durchbrochen gearbeiteter Aureole soll vom Künstler Jocho angefertigt worden sein (Heian-zeitlich).

Eine Halle mit ca. 180 Jizo-Steinstatuen, die Hyakutai-Jizo-do, Hundert-Jizo-Halle, kann man im Tempel Kiyomizudera in Kyoto sehen. Eine riesige Ansammlung im Freien ist im Adashino Nenbutsu-ji im Stadtteil Arashiyama in Kyoto zu finden. Sentai Jizo nennt man die größeren Areals, wo wörtlich "tausend Jizo"-Statuen oder eine ganze "Jizo-Armee" stehen. Die Einzelstatue ist meistens klein und wenig künstlerisch, dafür können solche Statuen massenhaft auftauchen. Wer solche Jizo-Armeen sehen möchte, findet sie beispielsweise auf dem Koya-san auf dessen großem Friedhof oder beim Hasedera in Kamakura oder in Ogano-machi in Nord-Tokyo.


 

Abb. links: Kyoto, am Tempel To-ji. Abb. rechts: Nara, beim Tempel Kofuku-ji.

 

Abb. links: Kyoto, Tempel Rokuharamitsu-ji. Abb. rechts: Uji, auf dem Gelände des Tempels Kosho-ji

 

Abb. links: Kiyomizudera, Kyoto. Abb. rechts: Hozo-in (Houzou-in), Subtempel des Manpuku-ji in Uji (Präfektur Kyoto)

Kiyomizudera, Kyoto: Die Hyakutai-Jizo-do, Hundert-Jizo-Halle, enthält ca. 180 Jizo-Steinstatuen.

Ema am Subtempel Noman-in des Hasedera in Sakurai: Der rote Stempel verweist auf den Yamato Hasedera und den Subtempel Noman-in. Rechts steht: Mizuko Jizo Bosatsu. Mizu = Wasser, Ko = kodomo, also Wasserkinder. Das ist das Wort für ein totgeborenes Baby, ursprünglich auch für früh verstorbene Kinder.

unzählige Jizo-Figuren mit den typischen roten Mützchen und Lätzchen am Subtempel Noman-in des Hasedera in Sakurai.


Literatur, Links und Quellen:
Nicholas Bornoff, Michael Freeman: Things Japanese - Everyday Objects of Exceptional Beauty and Significance, 143 S., Verlag Periplus, 2014, ISBN-10: 480531303X, ISBN-13: 978-4805313039, S. 118-119
Jaanus- Dictionary of Japanese Architectural and Art Historical Terminology compiled by Dr. Mary Neighbour Parent:
http://www.aisf.or.jp/%7Ejaanus/
Jizo auf JAANUS:
http://www.aisf.or.jp/%7Ejaanus/deta/j/jizou.htm
Mark Schumacher: Jizo auf Onmarkproduction
http://www.onmarkproductions.com/html/jizo1.shtml
Jizo auf Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kshitigarbha - https://en.wikipedia.org/wiki/K%E1%B9%A3itigarbha
Jizo bei Bernhard Scheid, Religion in Japan, Universität Wien:
https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie/Jizo - Kamigraphie: https://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Jiz%C5%8D
Hank Glassman: The Face of Jizo, Image and Cult in Medieval Japanese Buddhism, 292 S., University of Hawaii Press, Honolulu 2011, ISBN-10: 0824835816, ISBN-13: 978-0824835811
Pilgerausstattung:
http://www.onmarkproductions.com/html/pilgrimages-pilgrims-japan.html#estore
Sammlung von Jizo-Bildern:
http://www.kms.ac.jp/~hsc/henro/FJK/jizo/jizo.htm
Mark Schumacher zur rote Farbe der Lätzchen:
http://www.onmarkproductions.com/html/color-red.html
Historische Figur:
http://www.miho.jp/booth/html/artcon/00000089e.htm
Karl-J. Kampmark: The significance and changing patterns of Jizo worship in contemporary Japan, socio-cultural study, PhD thesis, James Cook University, 2008
https://researchonline.jcu.edu.au/34869/1/34869-kampmark-2008-thesis.pdf
Iva Lakic Parac: Bodhisattva Jizo ans Folk Religious Influences - Elements of Folk Religion in Jizo's Understanding in Japan, Asian Studies IV (XX), 1 (2016), S. 115-129, pdf:
https://revije.ff.uni-lj.si/as/article/download/4180/5944
Pilgerstab auf JAANUS:
http://www.aisf.or.jp/%7Ejaanus/deta/s/shakujou.htm
Wunschjuwel auf JAANUS:
http://www.aisf.or.jp/%7Ejaanus/deta/h/houju.htm
Kanazawa University Public E-coure: Jizo -
https://open-learning.crc.kanazawa-u.ac.jp/open-e-course/docs/The%20Jizo%20of%20Kanazawa%20City.pdf
Buddismuskunde der Universität Hamburg:
https://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/pdf/4-publikationen/buddhismus-in-geschichte-und-gegenwart/bd11-k05formanek.pdf


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