Bernhard Peter
Nara: Naramachi und Naramachi Koshi-no-ie


Lage und Erreichbarkeit
Naramachi ist ein historisches Stadtviertel, das sich südlich des Tempels Gango-ji erstreckt, zum Teil sogar auf ehemaligem Tempelgelände des Gango-ji, wie der Sockel der ehemals vorhandenen Pagode des Tempels im Viertel zeigt. Doch mit dem Niedergang der großen und ausgedehnten Tempelanlagen des Gango-ji, von denen nur noch ein Bruchteil der Gebäude existiert, entwickelte sich der ehemalige Tempelgrund seit dem 15. Jh. zum Handelszentrum, und hier befinden sich noch beiderseits der engen Sträßchen viele alte Häuser aus der Edo- und Meiji-Zeit, Residenzen der Handelsherren (städtischer Händler = Shonin, Shounin) oder Handwerker (Shokunin) oder allgemein der Städter (Chonin, Chounin), ebenso wie Warenlagerhäuser. Viele davon sind heute zu Läden, Cafés, Boutiquen und Restaurants geworden, und einige wenige haben ihren ursprünglichen Charakter bewahrt und können als Museum besichtigt werden, so z. B. das über 100 Jahre alte Nigiwai-no-ie (1917 erbaut, innen mit den 24 Jahreszeiten nach dem traditionellen Almanach dekoriert) und das Koshi-no-ie (exakte Replik eines Stadthauses, Details siehe unten), beide im zentralen Naramachi, sowie die Imanishike Shoin-Residenz im östlichen Naramachi, das ehemalige Wohnhaus eines wichtigen Beamten des Tempels Kofuku-ji. Man erreicht dieses Viertel entweder vom Gango-ji bzw. Kofuku-ji aus zu Fuß genau südwärts, oder aber man nimmt ab den Bahnhöfen JR Nara bzw. Kintetsu Nara die Busse Nr 1 oder 2, die eine ringförmige Route befahren und bestens für die Sehenswürdigkeiten geeignet sind.


Das Machiya-Haus
Typisch für die Bebauung des Viertels ist das Machiya-Haus, das traditionelle Stadthaus aus Holz (Machi = Stadt, ya = Haus oder Geschäft): Es ist zur Front hin schmal und erstreckt sich weit nach hinten über ein bis mehrere Innenhöfe. Das Machiya-Haus ist ein Subtyp des traditionellen japanischen Hauses (Minka-Haus). So ein typisches Stadthaus läßt von außen nicht ahnen, wie großzügig es sich nach hinten entwickelt. Das lag daran, daß früher die Steuer nicht nach Grundfläche, sondern nach Frontbreite berechnet wurde. Folglich achtete man darauf, eine möglichst schmale Berechnungsgrundlage zu haben. Diese Stadthäuser, die vorne nur bis 6 m (3-3,5 ken) breit waren, in Ausnahmefällen auch 18-20 m (10 ken) erreichen konnten, aber bis zu 50 m in die Tiefe gehen konnten, dienten sowohl als Wohnhaus als auch als Laden bzw. Handeskontor. Das war der erste Raum zur Straße hin, der Mise-no-ma genannt wird (Mise = Laden). Manchmal konnte der Raum mit Läden zur Straße hin geöffnet werden zum Verkauf der Waren an Passanten. Dahinter lag als zweiter Raum das Zimmer Naka-no-ma (zentrales Mittelzimmer, Naka = inmitten), ein Übergangszimmer höherer Privatheit, in dem besonders wichtige oder hochgestellte Kunden empfangen wurden. Noch weiter hinten schloß sich ggf. das Oku-no-ma als drittes Zimmer an, das bereits ein privates Empfangszimmer war, oft mit Tokonoma (Schmucknische) ausgestattet. Die Untergliederung des Hauses erfolgte mit Shoji- und Fusuma-Schiebetüren. Innenhöfe mit Gärten (Tsubo-niwa) lagen zwischen den einzelnen Abschnitten des Hauses und versorgten die Räume mit Licht. Doma wird der Erschließungsraum genannt, durch den man die "besseren Räume" erreicht, selbst oft nur mit einem Lehmboden, mit Naturstein- oder Kieselstein-Pflaster oder mit Holzdielen, und im Niveau tiefer liegend als die Tatami-Räume. Über den Doma erreicht man auch die weiter hinten liegenden Bereiche des Hauses. Zum funktionalen Doma gerechnete Flure (Tori-niwa, Touri-niwa) mit Holzdielen liefen entweder an den beiden Längsseiten des Hauses entlang oder verliefen in der Mitte der Längsachse. Im Flur lag die Küche. Ganz hinten in dieser Hausstruktur lagen Lagerräume und Werkstätten.

Die Häuser sind so gebaut, daß die Traufe zur Straße gerichtet war. Der Dachüberstand ist gering. Dieser Typ wird Hirairi-Haus genannt. Das Gegenteil wären Häuser mit einem Giebel über dem Eingang; dieser Typ ist bei Stadthäusern nur ganz selten anzutreffen, eigentlich nur bei residenzartigen Anwesen hochgestellter Personen. Zur Straße hin bestimmen Gitter (Koshi) aus vertikalen Holzstäben (Kinusuko) das Erscheinungsbild der Front, denn zum Schutz vor Sturm und Eindringlingen sind vor allen Fenstern und Schiebewänden diese Holzgitter mit engstehenden Vertikalen angebracht. Sie erlauben zudem den Bewohnern, nach draußen zu blicken, ohne selbst gesehen zu werden, und sie filtern das grelle Sonnenlicht. Für unterschiedliche Kategorien von Händlern gab es unterschiedliche Gittertypen, anhand derer man die Läden unterscheiden konnte.


Das Koshi-no-ie als typisches Machiya-Haus
Das Koshi-no-ie (Adresse: 44 Gangojicho, Nara-shi, Nara-ken) ist kein historisches Original, sondern eine detailgetreue Replik eines traditionellen Naramachi-Machiya-Hauses aus der Edo-Zeit. Es wird vom der Stadtverwaltung als Museum betrieben und ist ohne Eintritt frei zu besichtigen und sehr photofreundlich. Viele wichtige Elemente dieses Haustyps sind hier perfekt zu besichtigen: Die Holzgitter (Koshi) vor den Fenstern zur Straße hin, die Gruppen von Schlitzen ähnelnden Fenster (Mushiko-mado) des niedrigen Obergeschosses, das Foyer, linkerhand desselben die mit Tatamis ausgelegten Räume im Vorderhaus, die beiden nach hinten angrenzenden Räume zunehmender Privatheit, die Kastentreppe (Hako-kaidan), eine Kombination aus Schubladenkommode, Schrank und Treppe, welche in die Räume des Obergeschosses führt und den Stauraum unter der Treppe optimal nutzt, der Küchen-Ofen (Kamado) mit drei Flammen und andere Küchenutensilien im Flur mit Lehmboden, der Rauchabzug (Kemuri-nuki), die hochgelegenen und mit Seilzügen zu bedienenden Fensteröffnungen (Akari-tori, eine Art Lukarne) im Flur, der innere Garten (Naka-niwa) mit einem Baum, einem Handwaschbecken und einem Pflasterweg sowie mehreren Trittsteinen, alles sehr winzig und mit sehr viel Liebe gestaltet, der daran vorbeiführende Flur (Tori-niwa, Touri-niwa) als Fortsetzung des Erschließungsbereiches, der hinter dem Garten liegende abgetrennte Solo-Raum (Hanare) z. B. für die Familie oder für die Eltern und noch weiter hinten das Lagerhaus (Kura) an der Rückseite des Anwesens. Die Innenräume sind so eingerichtet, daß man sich in das typische Leben in diesen Häusern zur Edo- und Meiji-Zeit hineinversetzen kann.

Das Foyer (Doma) besitzt eine interessante Tür (O-do, Ou-do = große Tür, auch: Ou-do-guchi) mit einem großen Türflügel und einem kleinen Türchen darin. Alles läßt sich mit Einlegebalken und Splinten versperren. Die kleine Tür öffnet seitwärts, die komplette Tür läßt sich anheben und hochgeklappt in horizontaler Stellung am von der Decke hängenden Vertikalbalken einrasten und mit einem Holzsplint arretieren. Auch die Konstruktion der hochliegenden Lukarnen zur Be- und Entlüftung des Flurs mit der Küche ist raffiniert: Mit den zwei Seilzügen lassen sich drei Zustände herstellen: Offen zum Belüften, transparent mit einem Shoji-Element oder wetterfest mit einem Holzladen. Die beiden beweglichen Teile gleiten in Schienen und lassen sich vom Fußboden aus steuern, und die Seilzüge können an Haken belegt werden.


Machiya-Häuser in Naramachi


Naramachi: Goryo-Schrein


typisches Machiya: Koshi-no-Ie

Koshi-no-ie, unten Koshi, oben Mushiko-mado

Koshi-no-ie, Tür (O-do, Ou-do = große Tür)

Koshi-no-ie, Mise-no-ma

Koshi-no-ie, Mise-no-ma mit Koshi

Koshi-no-ie, Mise-no-ma

Koshi-no-ie, Naka-no-ma mit Kastentreppe (Hako-kaidan)

Koshi-no-ie, Küchen-Ofen (Kamado)

Koshi-no-ie, Küchen-Ofen (Kamado)

 

Koshi-no-ie, Akari-tori

Koshi-no-ie, Naka-niwa

Koshi-no-ie, Naka-niwa und Tori-niwa, im Hintergrund Oku-no-ma

Koshi-no-ie, Naka-niwa und Tori-niwa, im Hintergrund rechts Oku-no-ma

Koshi-no-ie, Solo-Raum (Hanare) mit Blick auf den Naka-niwa von Osten

Koshi-no-ie, Naka-niwa

Koshi-no-ie, Obergeschoß mit Mushiko-mado

Koshi-no-ie, Obergeschoß, rechts Durchblick zum Doma

Koshi-no-ie, Doma, am Naka-niwa und den Toiletten vorbei zum Lagerhaus (Kura)


Literatur, Links und Quellen:
Position auf Google Maps:
https://www.google.de/maps/@34.6753314,135.8306447,19.24z - https://www.google.de/maps/@34.6750374,135.8307525,41m/data=!3m1!1e3 - https://www.google.de/maps/@34.6772631,135.8302072,47m/data=!3m1!1e3
Naramachi und dortige Sehenswürdigkeiten:
https://www.japan-guide.com/e/e4108.html
Nigiwai-no-ie:
https://naramachi-nigiwainoie.jp/ - https://naramachi-nigiwainoie.jp/english/
Koshi-no-ie:
http://www.city.nara.lg.jp/www/contents/1381131993144/
Besucherfaltblatt des Koshi-no-ie
Koshi-no-ie:
https://www.visitnara.jp/venues/S01099/
Koshi-no-ie:
https://www.japanvisitor.com/japan-museums/koshi-no-ie
Koshi-no-ie:
https://digjapan.travel/en/spot/id=8184
Machiya-Häuser:
https://www.japan-experience.de/zu-wissen/japan-verstehen/die-machiya
Machiya-Häuser:
https://de.wikipedia.org/wiki/Machiya - https://en.wikipedia.org/wiki/Machiya
Naramachi:
https://narashikanko.or.jp/en/spot/structure/naramachikoshinoie/
Naramachi:
https://www.ana-cooljapan.com/destinations/nara/naramachi
Minka-Häuser:
https://de.wikipedia.org/wiki/Minka_(Japan)
Machiya auf JAANUS:
http://www.aisf.or.jp/~jaanus/deta/m/machiya.htm


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